Urfassung der Rede des 1866 verstorbenen Häuplings der Suquamish und Duwamish-Indianer Seattle von 1854.
Verfaßt von dem Ohrenzeugen Dr. Henry A. Smith, erstmals veröffentlicht am 29.10.1887 in der Zeitung 'Seattle Sunday'.

Häuptling SeattleDer alte Häuptling Seattle war der stattlichste Indianer, den ich jemals gesehen habe und bei weitem der, mit dem edelsten Gesichtsausdruck. Er maß beinahe sechs Fuß, wie er so dastand in seinen Mokassins, er hatte breite Schultern, eine mächtige Brust und war wohlproportioniert. Seine Augen waren groß, klug, ausdrucksvoll und freundlich, wenn sie in Ruhe waren, und spiegelten getreu die unterschiedlichen Stimmungen der erhabenen Seele, die durch sie hindurchschien. Er war meistens von feierlicher Ernsthaftigkeit, still und würdevoll, doch bewegte er sich bei wichtigen Anlässen durch die versammelte Menge wie ein Titan unter Liliputanern, und sein einfaches Wort war Gesetz.

Wenn er sich im Rat oder zum Zwecke freundschaftlicher Beratung erhob, um zu sprechen, richteten sich aller Augen auf ihn. Und sogleich flossen kräftige, wohltönende und beredte Sätze von seinen Lippen, gerade so wie die endlosen Donner der Katarakte aus unerschöpflichen Quellen fließen. Seine gesamte großartige Haltung war so edel wie die des zivilisierten militärischen Führers, der die Befehlsgewalt über die Streitkräfte eines Kontinent inne hat.

Weder seine Beredsamkeit noch seine Würde noch sein Anstand waren erworben. Sie waren für seine Männlichkeit natürlich, wie die Blätter und Blüten es für einen blühenden Mandelbaum sind.

Sein Einfluß war großartig. Er hätte auch ein Kaiser sein können, aber alle seine Instinkte waren demokratisch, und er herrschte über seine loyalen Untergebenen mit Freundlichkeit und väterlichem Wohlwollen.

Die Weißen schmeichelten ihm immer durch besondere Aufmerksamkeit, und dies besonders dann, wenn er mit ihnen zu Tisch saß. Und es war bei solchen Gelegenheiten mehr als irgendwo anders, daß er die angeborenen Verhaltensweisen eines Gentleman unter Beweis stellte.

Als Gouverneur Stevens zuerst in Seattle eintraf und den Eingeborenen mitteilte, daß er zum Kommissar für indianische Angelegenheiten im Washington-Territorium ernannt worden sei, bereiteten sie ihm einen überschwenglichen Empfang vor Dr. Maynards Dienstgebäude nahe am Hafen an der Main Street. Die Bucht wimmelte von Kanus, und das Ufer war gesäumt von einer lebendigen Masse wogender, sich windender dunkler Menschen. Bis dann die trompetengleiche Stimme des alten Häuptling Seattle über die unermeßliche Menge rollte wie das aufrüttelnde Signal einer tiefen Trommel, woraufhin so augenblicklich vollkommene Stille folgte, wie sie wohl auf einen Donnerschlag aus heiterem Himmel folgt.

Darauf wurde der Gouverneur von Dr. Maynard der Menge der Eingeborenen vorgestellt. Er begann sofort - in schlichtem, direktem Gesprächston - seine Aufgabe bei ihnen zu erklären. Diese ist nur allzu bekannt, als daß es hier einer Wiederholung bedürfte.

Als er sich setzte, erhob sich Häuptling Seattle mit all der Würde eines Senators, der die Verantwortung für eine große Nation auf seinen Schultern trägt. Indem er seine Hand auf den Kopf des Gouverneurs legte und langsam mit dem Zeigefinger der anderen Hand zum Himmel wieß, begann er seine denkwürdige Ansprache in feierlichem und ausdrucksvollem Ton:

"Der Himmel dort droben, der seit unzähligen Jahrhunderten Tränen des Mitgefühls auf unsere Vorfahren geweint hat und uns ewig erscheint, kann sich dennoch stets verändern. Heute ist er schön, morgen schon kann er von Wolken bedeckt sein. Meine Worte sind wie Sterne, die nicht untergehen. Was Seattle dem großen Häuptling Washington ("Die Indianer dachten früher, daß Washington noch am Leben sei. Sie kannten den Namen, als den eines Präsidenten und wenn sie vom Präsidenten in Washington hörten, verstanden sie den Namen der Stadt als den des regierenden Staatsoberhauptes. Sie glaubten auch, daß König Georg immer noch Englands regierender Monarch sei, weil die Händler der Hudson Bay sich selbst 'König Georgs Männer' nannten. Die Handelsgesellschaft war schlau genug, die Indianer über diesen harmlosen Irrtum nicht aufzuklären. Ihre Mitglieder wußten, daß die Indianer so mehr Respekt vor ihnen hatten, als wenn sie gewußt hätten, daß England von einer Frau regiert wurde. Einige von uns wissen es inzwischen besser." (Anmerkung von Dr. Smith)) sagt, darauf kann er sich mit der gleichen Sicherheit verlassen, wie sich unsere weißgesichtigen Brüder auf die Wiederkehr der Jahreszeiten verlassen können.

Der Sohn des weißen Häptlings sagt, sein Vater sende uns Grüße der Freundschaft und des Wohlwollens. Das ist freundlich, denn wir wissen, daß er unserer Freundschaft wenig bedarf, weil sein Volk groß ist. Sie sind wie das Gras, das die unermeßliche Prärie bedeckt, während meine Leute nur wenige sind und den vereinzelten Bäumen auf einer vom Wind gepeitschten Ebene gleichen.

Der große - und ich nehme an - auch gute weiße Häuptling schickt uns die Nachricht, daß er unser Land kaufen möchte, daß er aber auch gewillt ist, uns zu erlauben, genug davon für uns zurückzubehalten, damit wir gut weiterleben können. Das erscheint mir wirklich großzügig, denn der Rote Mann hat keine Rechte mehr, die respektiert werden müßten; auch mag das Angebot weise sein, da wir nicht länger das weite Land benötigen. Es gab eine Zeit, da unser Volk das ganze Land überzog, wie die Wellen des windgekreuselten Meeres seinen muschelgepflasterten Boden bedecken. Aber die Zeit ist lange vergangen, und mit ihr geriet die Großartigkeit der Stämme ebenfalls in Vergessenheit. Ich will nicht klagen über unseren verfrühten Niedergang, noch meinen weißgesichtigen Brüdern den Vorwurf machen, ihn beschleunigt zu haben, denn auch wir mögen an manchem die Schuld tragen.

Wenn unsere jungen Männer wegen eines tatsächlichen oder scheinbaren Unrechts ärgerlich werden und ihre Gesichter mit schwarzer Farbe entstellen, dann sind auch ihre Herzen entstellt und werden schwarz; und dann ist ihre Grausamkeit unbarmherzig und kennt keine Grenzen, und unsere Alten sind nicht in der Lage sie zurückzuhalten.

Aber laßt uns hoffen, daß die Feindseligkeiten zwischen dem Roten Mann und seinen weißgesichtigen Brüdern niemals wiederkehren. Wir hätten alles zu verlieren und nichts zu gewinnen.

Wahr ist es, daß Rache - sogar auf Kosten des eigenen Lebens - unter unseren jungen Kriegern als erstrebenswert angesehen wird; aber alte Männer, die in Kriegszeiten zu Hause bleiben, und die Frauen, die Söhne zu verleiren haben, wissen es besser.

Unser großer Vater Washington, denn ich nehme an, er ist genausogut unser Vater wie eurer, seit (König) Georg seine Grenzen nach Norden verlegt hat; unser großer und guter Vater, sage ich, sendet uns durch seinen Sohn, der ohne Zweifel bei seinem Volk ein großer Häuptling ist, die Nachricht, daß er uns beschützen wird, wenn wir tun, was er verlangt. Seine tapferen Armeen werden für uns ein starrender Wall der Stärke sein und sein großen Kriegsschiffe werden unsere Häfen füllen, so daß unsere alten Feinde, die Simsiams und Hydas, nicht länger unsere Frauen und alten Männer ängstigen.
Dann wird er unser Vater sein und wir seine Kinder.

Aber kann das jemals sein? Euer Gott liebt euer Volk und haßt meins; er legt seine starken Arme liebend um den Weißen Mann und führt ihn, wie ein Vater seinen kleinen Sohn führt. Aber er hat seinen Roten Kinder im Stich gelassen; er läßt euer Volk jeden Tag stärker werden und bald werden sie sich über das ganze Land ausgebreitet haben, während unser Volk dahinschwindet wie die schnell zurückweichende Ebbe, die niemals wieder zurückströmen wird. Der Gott des Weißen Mannes kann seine Roten Kinder nicht lieben, sonst würde er sie beschützen. Sie scheinen Waisen zu sein, die nirgens Hilfe finden. Wie können wir da Brüder werden? Wie kann euer Vater unser Vater werden, uns Wohlergehen bringen und in uns Träume einer wiederkehrenden Größe erwecken?

Euer Gott scheint parteiisch zu sein. Er kam zum Weißen Mann. Wir sahen ihn nie, hörten noch nicht einmal seine Stimme. Er gab dem Weißen Mann Gesetze, aber er hatte keine Worte für seienen Roten Kinder, von denen viele Millionen diesen unermeßlichen Kontinent füllten, wie die Sterne das Firmament füllen. Nein, wir sind zwei verschiedene Rassen und müssen es bleiben. Es gibt wenig gemeinsames zwischen uns. Die Asche unserer Vorfahren ist heilig, und ihre letzte Ruhestätte ist geweihter Boden, während ihr euch von Gräbern eurer Väter anscheinend ohne Trauer entfernt.

Eure Religion wurde von dem ehernen Finger eines erzürnten Gottes auf Steintafeln geschrieben, damit ihr sie nicht vergessen solltet. Der Rote Mann konnte das niemals behalten und auch nicht begreifen. Unsere Religion besteht in den Traditionen unserer Vorfahren, den Träumen unserer alten Männer, die ihnen vom Großen Geist eingegeben wurden, und in den Visionen unserer Weisen - und sie steht geschrieben in den Herzen unseres Volkes.

Eure Toten hören auf, euch und den Ort ihrer Geburt zu lieben, sobald sie die Pforte des Grabes passiert haben. Sie wandeln weit entfernt, jenseits der Sterne, sind bald vergessen und kehren niemals zurück. Unsere Toten vergessen niemals die wunderschöne Welt, die ihnen Leben gab. Immer noch lieben sie die gewundenen Flüsse, die großartigen Berge und die einsamen Täler; und immer empfinden sie die zärtlichste Zuneigung zu denen, die mit einsamen Herzen leben, und sie kehren oft zurück, um diese zu besuchen und zu trösten.

Tag und Nacht können nicht beieinander verweilen. Der Rote Mann ist immer vor dem herannahenden Weißen Mann geflohen, wie die schwankenden Nebel auf der Bergseite vor der aufstrahlenden Morgensonne fliehen.

Wie auch immer: Euer Vorschlag scheint gerecht zu sein, und ich denke, mein Volk wird ihn akzeptieren und sich auf die Reservation zurückziehen, die ihr ihm anbietet; und wir werden abseits und in Frieden leben; denn die Worte des großen weißen Häuptlings scheinen die Stimme der Natur zu sein, die zu meinem Volk aus dem undurchdringlichen Dunkel spricht, welches sich so schnell um meine Leute zusammenzieht wie ein dichter Nebel, der sich vom mitternächtlichen Meer auf das Land schiebt.

Es ist ziemlich unwichtig, wo wir den Rest unserer Tage verbringen. Es sind ihrer nicht mehr viele. Die Nacht des Indianers verspricht dunkel zu werden. Kein heller Stern steht am Horizont. Winde klagen in der Ferne mit trauriger Stimme. Irgendeine grimmige Memesis, eine Rachegöttin unserer Rasse, ist auf der Fährte des Roten Mannes; und wo er auch geht, er wird stets die todsicher herannahenden Schritte des grausamen Zerstörers hören und sich darauf vorbereiten, seinen Verhängnis entgegenzugehen - gleich dem verwundeten Reh, das die herannahenden Schritte des Jägers hört. Nur wenige Monde mehr, wenige Winter, und nicht einer von den gewaltigen Scharen, die einst dieses weite Land füllten oder die nun in aufgelösten Gruppen durch die weite Einöde streifen, wird übrigbleiben, um an den Gräbern eines Volkes zu weinen, das einst so mächtig und hoffnungsvoll war wie das eure.

Aber warum sollten wir klagen? Warum sollte ich über das Schicksal meines Volkes murren? Stämme bestehen aus einzelnen Menschen und sind nicht besser als diese. Menschen kommen und gehen wie die Wellen des Meeres. Eine Träne, eine Totenklage, und sie sind für immer unserem sehnsüchtigen Blick entschwunden.

Auch der Weiße Mann, dessen Gott mit ihm gegangen ist und zu ihm gesprochen hat wie ein Freund zum anderen, ist nicht ausgenommen von dieser allgemeinen Bestimmung. Vielleicht sind wir letztlich doch alle Brüder und Schwestern. Wir werden sehen.

Wir werden über euren Vorschlag nachdenken, und wenn wir entschieden haben, werden wir es euch wissen lassen. Doch sollten wir ihn akzeptieren, so stelle ich bereits hier und jetzt eine Bedingung: daß uns nicht das Recht abgesprochen wird, ohne Belästigung und nach unserem Willen die Gräber unserer Vorfahren und Freunde zu besuchen.

Jeder Teil dieses Landes ist meinem Volke heilig. Jeder Hang, jedes Tal, jede Ebene und jedes Gehölz ist geheiligt durch eine zärtliche Erinnerung oder eine traurige Erfahrung meines Stammes. Sogar die scheinbar stumm in der Sonne brütenden Felsen der Küste in ihrer feierlichen Größe sind getränkt von Erinnerungen an vergangene Ereignisse, die mit dem Schicksal meines Volkes verbunden waren. Und selbst der Staub unter unseren Füßen antwortet liebevoller auf unsere Schritte als auf eure; denn er ist die Asche unserer Vorfahren, und unsere nackten Füße sind sich der wohlwollenden Berührung bewußt, da der Boden reich ist durch das Leben unserer Familien.

Die grimmigen Krieger und die liebevollen Mütter, die frohgemuten Mädchen und die kleinen Kinder, die hier lebten und sich freuten, und von denen man jetzt nicht einmal mehr den Namen kennt, lieben immer noch diese Einöde, und ihre dunklen Winkel werden zur Abendzeit schattig durch die Anwesenheit der Geister der Dämmerung.

Und wenn der letzte Rote Mann von dieser Erde verschwunden sein wird, und die Erinnerung an ihn unter den Weißen zu einem Mythos geworden ist, dann werden diese Gestade wimmeln von den unsichtbaren Toten meines Stammes; und wenn sich eure Kindeskinder allein fühlen auf dem Feld, im Geschäft, auf der großen Straße oder in der Stille der Wälder: Sie werden nicht allein sein. Auf der ganzen Erde gibt es keinen Ort, der der Einsamkeit geweiht ist. In der Nacht, wenn die Straßen eurer Städte und Dörfer still geworden sind und ihr sie verlassen wähnt, werden sie voll sein von den zurückkehrenden Scharen, die einst dieses wundervolle Land bevölkerten und es jetzt noch lieben. Der Weiße Mann wird niemals allein sein. Möge er gerecht sein und freundlich mit meinem Volk umgehen, denn die Toten sind nicht völlig machtlos."

Andere Redner folgten, aber ich machte mir keine Notizen mehr. Gouverneur Stevens Antwort war kurz. Er versprach nur, mit ihnen bei irgendeiner zukünftigen Gelegenheit in einer allgemeinen Ratsversammlung zusammenzutreffen, um den vorgeschlagenen Vertrag zu diskutieren. Häuptling Seattles Versprechen, den Vertrag - falls einer ratifiziert werden sollte - zu befolgen, wurde bis auf den Buchstaben genau eingehalten, denn er war stets der unerschütterliche und treue Freund der Weißen. Der oben wiedergegebene Text ist nur ein kleiner Teil seiner Rede, und es fehlt ihm auch all der Zauber, den ihm die Ausstrahlungskraft und Ernsthaftigkeit des schwarzhaarigen, alten Redners sowie die Situation verliehen.

Dr. Henry A. Smith, 1887

Schildkröte

 


Im Frühjahr 1992 verkündete die New York Times eine niederschmetternde Entdeckung für den das Indianerbild romantisierenden, weißen Amerikaner:
Die Rede des Häuptling Seattle ist eine Fälschung!

Als das vielleicht meistbeanspruchte Dokument der Umweltbewegung wurde die Rede des Häuptling Seattle jahrzenhtelang in zahllosen ökologischen Pamphleten, Kalendern, Kinderbüchern, Bettelbriefen und Grabinschriften zitiert.
"Wie kann man den Himmel und das Land kaufen oder verkaufen?" heißt es dort. "Dies wissen wir: Die Erde gehört nicht dem Menschen, der Mensch gehört der Erde. Alle Dinge sind miteinander verbunden wie das Blut, das uns alle vereint. ... Wenn der letzte rote Mann mit seiner Wildnis verschwunden und die Errinnerung an ihn nur der Schatten einer Wolke ist, die sich über die Prärie bewegt, werden diese Küsten und Wälder dann noch da sein? Wird vom Geist meines Volkes etwas übrigbleiben?"

Von einem texanischen Literaturprofessor Anfang der siebziger Jahre verfaßt, lassen die schönen Gedanken in Seattles Reden bis heute die richtigen Saiten in den Herzen der Amerikaner erklingen. Der dahinsterbende Indianer, der nie so richtig zur letzten Ruhe gebettet wurde, hat in dieser Rede seinen pflichtgemäßen Auftritt: Nur wenn sie den Geist seines Volkes in sich aufnehmen, können die weißen Amerikaner sich retten. Es dürfte niemanden mehr überraschen, wenn Seattle, bevor er in die nächste, metaphorische Welt eingeht, die weißen Amerikaner zu seinen Brüdern erklärt: "Eines wissen wir. Unser Gott ist derselbe Gott. Selbst der weiße Mann kann vom allgemeinen Schicksal nicht ausgenommen werden. Vielleicht sind wir im Grunde ja Brüder. Wir werden sehen."


Die Vorstellung, von den Indianern lernen zu können, ist problematisch. Die meisten indianischen Völker liegen unter Schichten historischer Unterdrückung und symbolischer Vereinfachung begraben. Weiße Amerikaner ersannen den Mythos des "zum Untergang verurteilten, dahinsterbenden Indianers", doch als sie sich den eigenen modernistischen Dämonen endlich stellten, errichteten selbst wohlmeinende Reformer wie Collier einer mystifizierten indianischen Vergangenheit einen imaginären Altar, der als symbolisches Allheilmittel für eine unsichere Gegenwart diente. Im 20. Jahrhundert steht der Symbol gewordenen "Indianer" schließlich für Gemeinschaft, Spiritualität und ein harmonisches Verhältnis zur Umwelt - Werte, die in der modernen Welt zunehmend schwer zu finden sind.

Dies soll nicht heißen, daß Menschen, die die Indianer zu verstehen suchen und von ihnen lernen wollen, leichtgläubige Narren wären - weit gefehlt. Vielmehr handelt es sich um Menschen, die an einem bekannten amerikanischen Ritual teilhaben, in dem die Indianer die Möglichkeit für eine alternative Lebensweise repräsentieren. Und Indianer, die sich an diesem Ritual beteiligen und Nichtindianern einige von den Dingen erzählen, die sie gerne hören möchten, sind deshalb noch nicht unbedingt zynische Scharlatane. Wie die Pueblo, die 1923 an der New Yorker Börse sangen und tanzten, sind es oft Menschen mit einem scharfen Gespür für Kulturpolitik, die im besten Interesse ihrer Gruppe wirken.

Diese Wechselwirkung hat jedoch einen Haken: Solange Börsenmakler ihre Herzen und Brieftaschen öffnen, wenn der symbolische Indianer die Trommel schlägt, werden wirkliche Indianer die Rolle bereitwillig spielen und damit die Auffassung Amerikas stärken, daß es eben nur diesen symbolischen Indianer gibt. Solange Indianer diese Fiktion stützen, werden nichtindianische Amerikaner sie für richtig halten.

Daß sie die Indianer vorwiegend in symbolischen Begriffen sehen, hindert die nichtindianischen Amerikaner daran, sie als Menschen aus Fleisch und Blut zu akzeptieren. Wenn sie dann tatsächlich Indianer begegnen, sind sie aufgrund der hohen idealistischen Erwartungen oft enttäuscht und verärgert. Wenn sich herausstellt, daß Indianer nicht die Quelle der höchsten Erkenntnis sind, wie sich daß die weißen Amerikaner vorgestellt haben, tritt oft eine andere Form des Symbolismus an die Stelle des romantisierenden Bildes. Nun werden die Indianer als bedauernswerte soziale Problemfälle gesehen, als von der Armut geschlagene, von Alkohol und Krankheit entwürdigte Menschen, die möglicherweise eine anerzogene Abneigung zeigen gegen die amerikanische Urtugend, "ihre Situation zu verbessern". Auf die Idee, Indianer einfach als Leute zu sehen, die sich in der Welt behaupten wollen, kommen sie nicht.

In der Saison 1991/92 schaffte es das Baseballteam der Atlanta Braves, deren tobende Fans den "Tomahawk-Hieb" vorführten, bis in die World Series, und das Footballteam der Washington Redskins, deren Anhänger Kopfbedeckungen aus Truthahnfedern trugen, erreichte die Superbowl. Als die Indianer gegen das lärmende Spektakel protestierten, wurden sie von vielen Amerikanern angegriffen - die damit eindeutig unter Beweis stellten, daß sie den symbolischen Indianer dem wirklichen vorzogen. Wenn das amerikanische Eigeninteresse und die mythisierende Erinnerung auf dem Spiel stehen, fällt es nur allzu leicht, die Verbindungen zwischen Symbol und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart zu kappen und sich auf die Seite des Wunschbildes zu stellen.

Auf dem symbolischen Charakter indianischen Seins zu bestehen, lenkt die Amerikaner von den wirklichen Problemen der modernen Gesellschaft ab. Die Werte, für die die Indianer stehen (und für die sie in ihren eigenen Gesellschaften eintreten) - Familie, Gemeinschaft, spirituelle Erfahrung, Nähe zur "Natur" -, sind im heutigen Amerika sonst schwer zu finden.

Die meisten von uns kennen die Antworten auf die Fragen bereits, die wir unseren symbolischen Indianer stellen; aber wir haben Schwierigkeiten, in der modernen Welt so zu leben, wie es diesen Antworten gemäß wäre. Wie können wir Familien- und Gemeinschaftsbande pflegen, wenn wir alle paar Jahre umziehen? Wie können wir ein engeres Verhältnis zur Natur eingehen, wenn wir von Städten, Autos und künstlich festgelegten Trennungslinien abhängig sind, die uns sagen, wo die "Natur" beginnt und wo sie endet? Es ist viel einfacher, an Häuptling Seattle zu denken und nostalgisch zu werden, als seine Wagen zu verkaufen.

Das heißt nicht, daß uns die Indianer keine Alternativen anbieten. Aber um von den Indianern wirklich zu lernen, ist es nicht damit getan, sich eine religiöse Zeremonie, ein oder zwei Symbole oder sogar eine Haltung zu eigen zu machen. Diese Form des selektiven Grasens im multikulturellen Garten ist zu wenig schmerzhaft, um viel Wert zu sein. Um von den Indianer zu lernen, müssen die Mainstream-Konsumenten des Westens grundlegende Voraussetzungen in Frage stellen, die ihnen kostbar sind - Regierung, Profit, Fortschritt, um nur ein paar zu nennen. Sind sie erst einmal hinterfragt, analysiert und auf das Wesentliche reduziert worden, kann man sie rekonstruieren - nicht einfach in Form der indianisch angehauchten Rhetorik eines Häuptling Seattle, sondern als komplexe, komplizierte Ideen, die sich tatsächlich mit dem modernen Leben aller Menschen befassen. Das ist keine einfache Aufgabe, aber auch der geringste Erfolg rechtfertigt die Forderung nach kuturübergreifendem Austausch und einer neuen Sicht der Zukunft.

Wie kann man einen respekt- und sinnvollen, kuturübergreifenden Dialog zuwege bringen? Ganz gewiß nicht, indem wir en masse unsere Sachen packen und den Weg in die Reservationen einschlagen, um die Medizinmänner zu belästigen.

Aber einen kleinen Anhaltspunkt können die Weißen vielleicht bei den Indianer selbst finden. Fast jeder nordamerikanische Stamm kennt Geschichten, die von Schelmgestalten handeln. Manchmal ist der Schelm ein Kojote, manchmal eine Spinne, manchmal ein nicht häher definierttes Wesen. Er ist ein Charakter, der sich entzieht, ein uneindeutiger Gestaltwandler voller natürlicher und sexueller Energie. Er kann sowohl Mann als auch Frau sein, Hund und Katze, Mensch und Tier. Er kann Körperteile regenerieren und seinen Phallus durch einen See schicken, um eine Häuptlingstochter zu schwängern.

Der Schelm trozt nicht nur den durch Fleisch und Blut gesetzten Grenzen tierischer Identität, er will sich auch in die geistigen Kategorien einfügen, mit deren Hilfe wir die Welt verstehen. Dumm und klug, verabscheut und geachtet, gefährlich und tölpelhaft, enthüllt der Schelm, daß die Welt ein verwirrender Ort voller Widersprüche ist. Er it, wa wir alle gemeinsam haben - das Leben selbst.

Schelmgeschichten funktionieren oft auf mehreren Ebenen. Nicht selten ist der Schelm, der gerade einen Streich plant, selbst schon das Opfer eines Streiches, den andere oder Umstände ihm spielen oder den er sich selbst spielt. Der Schelm und sein Opfer verschmelzen in den Gedanken miteinander. Ursache und Wirkung werden in Frage gestellt. Der Schelm Iktomi will sich in den Tanz der Mäuse einschleichen, legt sich aber selbst herein und jammert zuletzt über den Schädel, der auf seinem Kopf feststeckt. Er ist gleichzeitig Initiator und Opfer des Streichs. Durch die Erfahrung der Geschichte werden Zuhörer und Erzähler austauschbar und auf diese Weise eins, ohne ihre Unterschiede zu verlieren.

Das 20. Jahrhundert haben die Indianer als arme Schelmen erlebt. Mit wiederholten Versuchen konfrontiert, sie zur Anpassung zu zwingen, haben sie mit einer Art kulturellen Gestaltwandels reagiert, der die von weißen Amerikaner so eifrig gezogenen Grenzen zwischen "uns" und "ihnen" verschwimmen läßt. Am Ende des Jahrhunderts ist klargeworden, daß die Frage, was es bedeutet im 20. Jahrhundert Indianer zu sein, nicht annähernd so schwierig zu beantworten ist wie die Frage, was es bedeutet ein weißer Amerikaner zu sein.

Indianer haben den Schelmen gespielt, um sich ihre indianische Identität und Zusammenghörigkeit selbst dann noch zu bewahren, wenn sie in einer Gesellschaft leben, die stolz darauf ist, ein rieseiger "Schmelztiegel" zu sein. In Amerika wirft man zwar gerne mit egalitären Phrasen um sich, aber in der Wirklichkeit haben wir es auch dort mit so vielfältigen Unterschieden in Rasse, ethnischer Zugehörigkeit, Klasse, Religion, Geschlecht und Geographie zu tun, daß Gruppenidentität und persönliche Identität einen Sinn ergeben. Viele Amerikaner scheitern jedoch an dem Widerspruch einer Gesellschaft, die einerseits gemeinsame Wertvorstellungen, anderseits das Banner einer manigfaltigen Multikutur hochhält. So pendeln die Amerikaner, wie ihre Indianerpolitik gezeigt hat, zwischen Uniformität und Individualität hin und her: Einmal versuchen sie ihre Minderheiten zur Anpassung, dann wieder zur Annahme ihrer Unterschiede zu zwingen.

So werden uns die Indianer ihre Lektion im Rahmen einer Schelmengeschichte erteilen, die von der Unmöglichkeit berichtet, an starren Verständniskategorien festzuhalten in einer Welt, die niemals aufhören wird sich zu verändern.

Die Mohawk-Krieger auf den New Yorker Wolkenkratzern, die Pueblo-Trommler an der Börse, die indianischen Freiwilligen in Amerikas Kriegen, der indianische Anwalt vor Gericht - sie alle haben, manchmal aus blanker Notwendigkeit, das Schelmenhaft-Wesentliche des kulturellen Austausches und der kulturellen Koexistenz begriffen, daß da besagt, daß nutzlose und schädliche Grenzen zwischen den Menschen einzureißen sind.
Zeigt Einfühlung und Respekt!
Werdet der andere, während ihr euch selbst treu bleibt!

Philip J. Deloria