Hoppál, Mihály
1999, Schamanismus in der Postmoderne
In: Alexandra Rosenbohm, Schamanen zwischen Mythos und Moderne.

Mihály Hoppál ist Vorsitzender der International Society for Shamanistic Research und Mitherausgeber der Zeitschrift „Shaman“. Als wissenschaftlicher Leiter des Ethnographischen Institutes in Budapest entwickelte er die Reihe „Bibliotheca Shamanistica“, welche die Entwicklung in der Schamanismus-Forschung reflektiert.

         In der Einleitung weist Hoppál daraufhin, dass bis zum Ende der Siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts der sibirische Schamanismus von der kommunistischen Sowjetunion und auch den westlichen kapitalistischen Ländern als nutzlose ideologische Erinnerung an die Vergangenheit gesehen wurde und somit als  ausgestorben angesehen wurde.

         „Modern“ wurde das meist benutzte Schlüsselwort des 20. Jahrhunderts und ging einher mit der Verwerfung von Tradition jeglicher Art. Ab den späten Siebzigern, ab der Postmoderne also, wurden die Mängel und Misserfolge dieser Einstellung immer mehr Menschen und Institutionen klar. Zum einen hatte der Fortschritt eine nicht wieder rückgängig zumachende Umweltverschmutzung verursacht. Zum anderen wurde immer deutlicher, dass der Verlust an Traditionen und vor allem das Auseinanderreißen der traditionellen lokalen Gemeinschaften moralische Unsicherheit und steigende Kriminalität nach sich zog. Nach Hoppál ist die Rückkehr zu den Traditionen eine Reaktion auf diese Erkenntnisse. Vor allem lässt sich diese Entwicklung bei den kleinen ethnischen Gruppen Sibiriens im post-kommunistischen Russland verfolgen.

         Es macht sich in Sibirien ein Trend bemerkbar, welchen man als postmodernen Schamanismus bezeichnen kann. Hoppál hat eigene Feldforschungen in Sibirien gemacht und versucht eine Typologie für diesen neuen eurasischen Schamanismus aufzustellen, welche keine Endgültigkeit beansprucht und noch zu erweitern und zu verfeinern ist.

Die zwei Hauptgruppen des präsenten Schamanismus in Sibirien:

  1. Kulturen, in denen der Schamanismus als autochthones Phänomen ohne längere Unterbrechungen bis in die Gegenwart überlebt hat.
  2. Entweder hat der Schamanismus überlebt und wird bis heute traditionell ausgeübt.
  3. Oder die Schamanen sind beinahe völlig eliminiert worden, haben sich jedoch in letzter Minute noch retten können.
  4. Neo-Schamanismus oder urbaner Schamanismus, der sich hauptsächlich in einem urbanen Umfeld herausgebildet hat.

Hoppál geht weiterhin auf spezifische Ethnien ein um den postmodernen Schamanismus weiter erläutern zu können.

         Den besten Ausgangspunkt dafür bieten seiner Meinung nach die Koreaner. Korea entwickelte eine vollkommen autonome Kultur. Die Kultur ist von der buddhistischen und neokonfuzianischen Philosophie durchdrungen. Neben den christlichen Religionen und sogenannter „neuer Religionen“ (z.B. die von dem Geistlichen Moon gegründete Weltreligion) nennt Hoppál die täglich religiöse Praxis der Schamaninnen die stärkste Strömung. Hierbei handelt es sich meist um Frauen, welche die Funktion des Schamanen erfüllen, sie werden Mudang genannt. Hoppál hat selber Rituale die von den Mudang ausgeführt wurden beigewohnt und konnte feststellen, dass sie zum einen zum Abbau von Spannungen beitragen und zum anderen die kulturelle Kontinuität der Gemeinschaft sichern.
In der Moderne konnte Südkorea so die kulturelle Autonomie viel besser wahren, als das vom Kommunismus stark veränderte Nordkorea. Südkorea zeigt im Schamanismus eine kulturelle Kontinuität auf, die darauf zurückzuführen ist, dass die Arbeit der Mudang nie gewaltsamen Einflüssen unterworfen war.   

         Den südkoreanischen Schamanismus kann man demzufolge in der Typologie zu der ersten Hauptgruppe zählen.

         Ein weiterer Repräsentant der ersten Hauptgruppe stellen die Mandschu-Schamanen dar, die in der Mandschurei (in der Provinz Jilin von China) leben. Sie haben die Zeit der kommunistischen Unterdrückung bis heute recht gut überstanden. Mitunter weil sie handgeschriebene Ritualbücher besitzen. Forscher konnten entdecken, dass diese Tradition auch Schamanen in der jungen Generation hat, bzw. ausbildet. Die Mandschu praktizieren einen Clan-Schamanismus, zu dessen wichtigsten Aufgaben es gehört bei großen Familienzusammenkünften das Zusammengehörigkeitsgefühl und auch die Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen aufrecht zu erhalten. Bei derartigen Zusammenkünften fungieren mehrere Schamanen neben einander.

         Auch die Schamanen aus den tungusischen Völkern gehören in der Typologie zu denen, die ohne Unterbrechungen ihre Tradition fortführen konnten. Aus diesen Völkern stammt übrigens das Wort „Schamane“. Da sie an einem äußeren Rand des riesigen Russlands leben, waren die Dorfbewohner auf die Schamanen angewiesen und wurden eher selten verfolgt.

         Die jakutischen Schamanen hingegen wurden von den frühen Sowjetzeiten an bis in die neunziger Jahre des 20.Jahrhunderts stark verfolgt. Sie konnten dennoch nicht ganz ausgerottet werden. Als die Unterdrückung in den neunziger Jahren nachließ, waren sie sofort wieder präsent. Daher kann man sie typologisch zu der zweiten Untergruppe der ersten Hauptgruppe rechnen. 1992 hat Hoppál bei einer internationalen Schamanenkonferenz beobachten können, wie ein Theaterstück aufgeführt wurde, das zum Thema die Schamanendarstellung hatte. Dadurch wurden bestimmte Elemente der Kultur wieder zum Leben erweckt und das Lied- und Erzählgut konnte weiter tradiert werden.

         Auch in Tuwa lebt ab 1995 eine Art Renaissance des Schamanismus auf, da die Regierung es nicht weiter unterdrückte, sondern zu fördern begann. Die Schamanen leben schon seit Jahrzehnten friedlich neben den Lama. Hoppál hatte die Möglichkeit mit einigen Schamanen aus Tuwa zu sprechen. Obwohl zahlreiche von ihnen in den fünfziger Jahren in Arbeitslagern inhaftiert waren, üben sie heute wieder ihre Funktion aus. Die Forschung zum tuwinischen Schamanismus ist relativ gut und breit, sagt Hoppál.

         Bei den uralischen Völkern aus dem Norden war der Schamanismus weniger stark ausgeprägt und sie wurden stärker von der russischen Kultur beeinflusst als die Völker aus dem Süden. Typologisch kommen sie der zweiten Teilgruppe der ersten Hauptgruppe am nächsten. Beinahe ausgelöscht und dennoch findet eine Art von Wiederbelebung statt.

         Der Schamanismus bei den Chanten, ein obugrischer Volksstamm, galt in der älteren Forschung als ausgestorben. In der neueren Forschung zeigte als erstes ein Dokumentarfilm von Lennart Meri, dass der Schamanismus dennoch überlebt hat. 

         Ähnliches zeigt Lennart Meri von den Nganassen auf der Halbinsel Taimyr. Wobei dort die Familienmitglieder des letzten echten Schamanen die Tradition in einer theaterähnlichen Form aufrecht zu halten versuchen. Das Singen und Trommeln ist jedoch nicht in einen sakralen Kontext eingebettet.        

Sarah Bartz, 2004