Koreanische Literatur
ab wann kann man sie so nennen?

Dr. Hans-Jürgen Zaborowski


Die Halbinsel Korea ist in den Kulturerdteil Ostasien eingebettet. Schon seit der vorgeschichtlichen Zeit stand sie unter dem Einfluß der Hochkultur Chinas. Viele Elemente der festländischen Kultur wurden  über Korea nach Japan weitergegeben. Zu dem gemeinsamen Erbe gehören auch die chinesische Sprache und die chinesische Zeichenschrift. In Korea ist sie schon um die Zeitenwende bekannt geworden und war über viele Jahrhunderte Bildungs- und Verwaltungssprache. Zur Wiedergabe der koreanischen Sprache, die in ihrer Struktur völlig anders ist als das Chinesische, war diese importierte Schrift denkbar ungeeignet. Schon früh machte man Experimente,  mit Hilfe der chinesischen Zeichen nicht nur koreanische Namen und Titel aufzuschreiben, sondern ganze Texte – auch literarische Texte.


Koreanische Literatur – nur in koreanischer Schrift?

Für die einfachen Menschen im Lande  waren die vielen tausend mühsam zu lernenden chinesischen Zeichen darüber hinaus eine schwere Last. Und so bildete  der König Sejong (1397 – 1450, er regierte von 1418 bis zu seinem Tode) – die Koreaner nennen ihn wegen seiner kulturellen Leistungen zu Recht Sejong den Großen – eine Kommission von Gelehrten. Ihnen gab er den Auftrag, eine eigene, eine neue Schrift für die koreanische Sprache zu schaffen. Sie sammelten Material über alle damals in Korea bekannten Schriftsysteme – und das waren gar nicht wenige – verglichen sie miteinander und kamen zu dem Schluß, dass keines, ebenso wenig wie die chinesische Zeichenschrift, so richtig für die koreanische Sprache passend war. Es blieb also nichts anderes übrig, als eine völlig neue Schrift zu schaffen. An dieser für sein Volk wichtigen Aufgabe nahm König Sejong selbst maßgeblichen Anteil. 1443 lag ein erster Entwurf vor, der weitere drei Jahre erprobt und verbessert wurde. 1446 wurde das Ergebnis der Bemühungen vorgestellt als Buch mit dem Titel Hunmin chongum: „Richtige Lautschrift zur Belehrung des Volkes“.

 Es setzte dann eine rege Publikationstätigkeit ein. In der neuen Schrift wurden dem „einfachen“ Volk buddhistische Texte und konfuzianische Klassiker zugänglich gemacht. Natürlich wurde die Schrift auch politisch instrumentalisiert: die allererste Veröffentlichung, noch in der Erprobungsphase, war eine Art Loblied auf die Herrscherfamilie der Yi–Dynastie, die ja erst 1392 die Macht im Lande übernommen hatte. In den „Liedern von den Drachen, die zum Himmel auffliegen“ (Yongbi ochon-ga) wurden Taten der ersten Herrscher der Familie und ihrer Vorfahren verglichen mit bedeutenden Herrschern der chinesischen Geschichte.


Koreas Position im Kulturerdteil Ostasien

Man muß sich aber die Frage stellen, ob die Geschichte der Literatur Koreas tatsächlich erst mit diesen Werken beginnt, beginnen soll – oder ob nicht  auch frühere, von Koreanern verfaßte Bücher in chinesischer Sprache und Schrift beachtet, betrachtet werden müssen.

 Die Beherrschung der fremden Sprache, des fremden Schriftsystems durch die koreanischen Gelehrten war bewundernswert. Sogar in den Augen von chinesischen Zeitgenossen war sie fast vollkommen. Dies wird deutlich, wenn in Texten aus dem großen Nachbarland die Völker aus der Peripherie Chinas miteinander verglichen werden. Dann nämlich sind die Koreaner die einzigen, die als „Menschen“ bezeichnet werden – alle anderen sind  „Barbaren“, die keine oder nur geringe Kenntnisse und Fähigkeiten im Gebrauch chinesischer eichen haben. Eine Rolle spielte gewiß auch, dass die Koreaner die gleichen Wertvorstellungen pflegten, sich nach außen hin als gelehrige Schüler der chinesischen Meister darstellen konnten.


Eine Inschrift der Beginn?

Schon der älteste erhaltene Text aus koreanischer Hand zeigt diesen hohen Grad an Sprachbeherrschung. Es ist dies die Grabinschrift für einen König des Nordstaates Koguryo aus dem Jahr 413 n.Chr. Sie befindet sich noch heute am Ort der zweiten Hauptstadt dieses Staates auf dem chinesischen Ufer des Grenzflusses Yalu in der Kleinstadt Jian (Kor. Chiban) und beeindruckt den Betrachter durch ihre monumentale Größe. Sie enthält nicht nur viele Einzelheiten über die Regierungszeit des Königs Kwanggaeto und seine Eroberungszüge (sein Name ist ein sprechender Name: „Der König, der das Land weithin eröffnet hat“), sondern auch über das Werden und Wachsen seines Reiches, über die Geschichte seiner Ahnen – und auch Einzelheiten aus der mythologischen Überlieferung.

 In dieser Steininschrift werden auch Versuche gemacht, koreanische Orts- und Personennamen und auch Beamtentitel mit chinesischen Zeichen lautlich zu umschreiben, etwas, was bis zu Zeit der Schaffung der koreanischen Schrift im 15. Jahrhundert nicht nur immer wieder versucht wurde, sondern sogar zu einem ganzen Umschriftsystem ausgebaut worden ist, mit dem später auch grammatische Elemente der koreanischen Sprache wiedergeben worden sind.


Was schrieben Koreaner auf Chinesisch?

Im ersten Jahrtausend nach der Zeitenwende entstand in Korea eine umfangreiche Literatur in chinesischer Sprache und Schrift, von der leider nur wenige Beispiele erhalten sind, die aber durch Zitate in späteren Büchern, durch Aufzählung von Autorennamen und Büchertiteln sogar in China und Japan nachweisbar sind.

 Die erhaltenen Werke gelehrter Hofbeamter, gebildeter buddhistischer Mönche, die historischen Aufzeichnungen berichten alle über einheimische Sitten und Gebräuche, sie berücksichtigen die Volkstraditionen und sind wichtige Quellen für die koreanische Identität. Von Provinzbeamten wie von hochbegabten Dichtern wurden Beispiele der Volksliteratur gesammelt und in Anthologien zusammengestellt. Sie biete uns noch heute Einblicke in die Volkskultur dieser frühen Phase der koreanischen Geschichte. Neben Übersetzungen in das Chinesische stehen, wenn auch nur in geringerem Umfang, Experimente, den Wortlaut, die lautliche Gestalt literarischer, vor allem lyrischer Texte durch ein hoch kompliziertes System mit chinesischen Zeichen zu bewahren. Liedertexte aus dem  Volksmund, aber auch von konkret benannten Dichterinnen und Dichtern, waren so beliebt, dass sie über mehrere Jahrhunderte mündlich weitergegeben worden sind – und dann nach der Entwicklung der koreanischen Buchstabenschrift fixiert werden konnten.

 Aber noch ein weiteres Argument spricht für die Einbeziehung auch chinesischsprachiger werke koreanischer Autoren in die historische Betrachtung der koreanischen Literatur. Sogar in literarischen Formen, die aus China übernommen worden sind, versuchen die Verfasser, sich von den Vorbildern aus dem gro0en Nachbarland zu emanzipieren. Schauplatz der Handlung vor allem von Novellen wird Korea, die handelnden Figuren sind als Koreaner gezeichnet, und es werden wachsend Stoffe aus der koreanischen Vergangenheit reflektiert. Sozialkritische Elemente tauchen auf. Und der Abstand der chinesisch gebildeten Oberschicht im Land von dessen einfachen Menschen wird deutlich, eine gewisse Entfremdung vom eigenen Volk und dessen Traditionen erkennbar – auch wenn das Medium der Darstellung noch die chinesische Sprache ist.

 In den nächsten Ausgaben unserer Zeitschrift folgen Darstellungen einzelner Abschnitte der koreanischen Literaturgeschichte ebenso wie Porträts bedeutender Autoren und Skizzen wichtiger Gattungen. Auch Beispiele koreanischer Lyrik in Original und Übersetzung sind geplant.